Die Feier von 40 Jahre Grüne im Schwäbischen Bezirkstag führte mich kürzlich nach Augsburg. Es war toll, mit vielen „alten“ Mitstreiter*innen zu sprechen und auf die geleistete Arbeit zu schauen. Die schwäbischen Grünen können stolz sein auf ihre Arbeit im Bezirk, damals wie heute!
Auf der Feier wurde auch der erste FRIEDA-Frauenpreis verliehen. Ich hatte die Ehre, die Laudatio auf die bildende Künstlerin Anna Ottmann (3.v.r.) zu halten, deren Werk sich der Wahrnehmung des weiblichen Körpers widmet. Ihre sinnlichen Bilder sind nicht eigentlich gemalt. Nicht nur spielt der Pinsel bei ihrer Arbeit nur eine untergeordnete Rolle, vielmehr ist es so: die Bilder ereignen sich – sowohl im Moment des Schaffens wie auch bei der Betrachtung.
Mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde Viktoria Putina (4.v.l.). Die Leiterin einer Einrichtung für Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung ermöglichte die Flucht von 82 jungen Heimbewohner*innen aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine ins schwäbische Ursberg. Die beeindruckende Geschichte dieser außerordentlich mutigen und entschlossenen Frau hat nicht nur mich sehr berührt. Deshalb möchte ich sie hier teilen mit Auszügen aus der Würdigung ihres Engagements:
„Es war alles andere als vorhersehbar, dass Sie ihr Lebensweg einmal nach Schwaben, genauer nach Ursberg führen wird. Doch der russische Angriffskrieg auf Ihr Land, der seit Februar diesen Jahres tobt, hat all die zivilen Lebensentwürfe, das intensive und erfüllte Berufsleben, die Zukunftspläne einer ganzen Bevölkerung zerrissen und aufs Tiefste erschüttert. Gewalt und Zerstörung bestimmen noch immer den ukrainischen Alltag, gerade besonders im Osten des Landes, in ihrer Heimat.
Als berufstätige Frau, in deren Verantwortung die Erziehung und Pflege von an die Hundert Kindern lag, die mit mehrfachen Schwerstbehinderungen in dem von ihnen geleiteten Heim lebten, hatten Sie in einer akuten Kriegssituation zu entscheiden, wie es für alle weitergehen soll und sicherlich auch abzuwägen, ob es im Krieg überhaupt ein Weitergehen geben kann. Gerade für so eine verletzliche hilfsbedürftige Personengruppe wie mehrfach schwerstbehinderte Kinder. Sie haben in dieser existenziellen Situation, ihr Schicksal, ihr Überleben, ihren Kampf für eine Zukunft ohne Zögern und sehr bewusst mit dem Schicksal, dem Überleben, der möglichen Zukunft für ihre Schützlinge verbunden. Welch ein Mut, welch eine Entschlossenheit, welch ein Verantwortungsbewusstsein, was für ein großer Liebesbeweis!
Ihre Geschichte der fast unmöglich erscheinenden Flucht mit den Ihnen anvertrauten Kindern, erinnerte mich direkt an die Geschichte von Janusz Korczak, dem polnischen bedeutenden Pädagogen, Kinderarzt und Kinderbuchautoren. Er setzte sein ärztliches und soziales Engagement besonders für arme und verwahrloste Kinder ein. Seit 1912 leitete er ein jüdisches Waisenhaus in Warschau. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939, in dessen Folge, die Vernichtung der jüdischen polnischen Bevölkerung begann, musste dieses Waisenhaus zunächst ins Warschauer Ghetto umziehen. 1942 holte die SS dann die 200 Kinder zur Deportation ab, um sie in das deutsche Vernichtungslager Treblinka zu bringen. Sie stellten es Janusz Korczak frei, in Warschau zu bleiben. Er entschied sich mit seinen Kindern in den Tod zu gehen, bei ihnen zu bleiben und ihnen diesen letzten Gang leichter zu machen. Ein großartiger Mensch.
Sie, Frau Putina, haben ihre Kinder nicht in den Tod begleitet. Sie haben sie durch eine unmöglich erscheinende Flucht, in die Sicherheit geführt. Sie haben viel riskiert und alles gewonnen. Dabei hatten Sie Helfer und Helferinnen, die diesen Fluchtplan realisiert haben, die die schwierigen und gefährlichen Passagen der Flucht mit durchlebt und gemeistert haben. Doch ich bin mir sicher, dass das Gelingen ganz entscheidend von Ihrer Umsicht, Ihrer Energie, Ihrer Kommunikationsfähigkeit abhing, von Ihrer Fürsorge und Liebe für die Kinder.
Es beginnen die Luftangriffe, die Sirenen, die Enge des Luftschutzkellers, Mitarbeiter kommen nicht mehr zur Arbeit weil sie geflohen sind, es gibt Lieferschwierigkeiten bei Lebensmitteln und Medizin. Da erreicht sie über Polen ein Hilfs- und Aufnahmeangebot, über die Caritas nach Ursberg in einer Facheinrichtung unterkommen zu können, mit allen Kindern. Ein konkretes Zeichen der Hoffnung, dem Schrecken und der Gewalt des Krieges zu entrinnen. Sie beschreiben die Angst der Kinder im Luftschutzkeller, die Zunahme epileptischer Anfälle. Ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen. Sie entscheiden das extrem Schwierige zu wagen, organisieren 3 Zugwaggons und begeben sich mit 82 Kindern auf die Flucht, unterstützt von 7 Mitarbeiterinnen, drei Müttern und einer Schwester einer Mitarbeiterin, ihrer eigenen Tochter und den drei Enkelkindern. Ihnen telefonisch immer zu Seite der ukrainische Arzt Dr. Telnyk und Wolfgang Unger, beide aus dem Domnikus-Ringeisen-Werk in Ursberg. Sie beraten Sie bei Gesundheitsfragen und versprechen, wenn Sie es bis nach Polen geschafft haben, übernehmen sie.
Der Zugfahrt ist anstrengend und führt durch umkämpftes Kriegsgebiet. Der Zug kann dort teilweise nicht weiter fahren, Strom fällt des Nachts aus, Wasser gibt es nicht zum Waschen, nur zum Trinken. Alles macht die Pflege der Kinder sehr schwierig. Total erschöpft erreichen sie am 29. März das polnische Erstaufnahmelager und schildern voller Rührung die große Freundlichkeit, mit der dort die teilweise akut kranken, schwerstbehinderten Kinder aufgenommen wurden.
Inzwischen hat man sich in Ursberg auf ihre Ankunft vorbereitet, ein Haus renoviert und Unterstützung organisiert, um sie von Polen nach Schwaben zu bringen. Es ist ganz außergewöhnlich und verdient unseren allergrößten Respekt mit welcher Großzügigkeit, Mitmenschlichkeit und Professionalität sich das Dominikus-Ringeisen-Werk und weitere unterstützende Einrichtungen, sich um sie alle gekümmert haben und dies noch tun. Selbst geflüchtete ukrainische Pflegekräfte sind mittlerweile eingestellt worden.
Sie, Frau Putina, sind weiter mit der Betreuung und Pflege ihrer Schützlinge betraut und sagten, dass sich die Kinder in der neuen Umgebung gut fühlen und ruhiger geworden sind. Was für gute Nachrichten. Wir hoffen, auch Sie haben sich etwas erholen können von den Ereignissen dieser ungewöhnlichen Flucht.
Wir ehren Sie, eine so außerordentlich mutige und entschlossene Frau, heute mit dem Frieda Sonderpreis der schwäbischen Grünen. Wir wünschen Ihnen alles Gute und wir wünschen auch von ganzem Herzen der Ukraine einen Waffenstillstand und einen baldigen Frieden.“